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Symposien gross / Symposiums longs 08.30 – 12.00
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Eine aktive und mitverantwortliche Rolle (vgl. z.B. „authoritative and accountable
positioning“; Greeno, 2006, S. 537) bei der Ko-Konstruktion von Bedeutungen im
Unterrichtsgespräch wird sowohl im Hinblick auf die Förderung des Verständnisses
und den Aufbau eines flexibel nutzbaren Wissens als auch hinsichtlich der Einfüh-
rung in eine disziplinäre Diskurs- und Denkpraxis und der Förderung von Motivation
und Interesse als bedeutsam betrachtet (Greeno, 2006; Sfard, 2002). Dies gilt so-
wohl für die Unterstützung kollektiver Verstehensprozesse im Klassengespräch (vgl.
z.B. Pauli, 2006) wie auch für die Unterstützung des Problemlösens und Verstehens
in Phasen selbstständiger Schülerarbeit (Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit).
Wirksame Formen der adaptiven Unterstützung individueller Verstehens- und Prob-
lemlösungsprozesse wurden auch von der Forschung zu tutoriellen Dialogen her-
ausgearbeitet (Chi, Siler, Jeong, Yamauchi, & Hausmann, 2001). Auch diese Ergeb-
nisse verweisen darauf, dass es insbesondere auf die Anregung kognitiver Aktivitä-
ten der Lernenden bei der Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt ankommt, z.B.
durch adaptive, eher indirekte Hilfestellungen.
Das Symposium vereinigt Beiträge zu Videoanalysen unterschiedlicher Gesprächs-
situationen (Klassengespräch, selbstständige Schülerarbeit, tutorielle Dialoge) im
Unterricht in zwei Fächern (Mathematik, Physik) auf der Basis von drei verschiede-
nen Videostudien, wobei der Gesichtspunkt der adaptiven Unterstützung des Ver-
stehens und Problemlösens einen übergreifenden Rahmen darstellt. Zwei Beiträge
beziehen sich auf Klassengespräche in Mathematik- und Physikstunden (Pauli,
Knierim), zwei weitere Beiträge auf die individuelle Lernunterstützung während der
selbstständigen Schülerarbeit (Krammer, Biaggi), wobei zum Teil das gleiche Analy-
se-Instrument auf Daten aus zwei verschiedenen Videostudien zum Mathematikun-
terricht verwendet wurde.
Zwei weitere Beiträge (Brunner, Elmer) befassen sich mit dem gleichen Unterrichts-
inhalt (Lösen von Textaufgaben), fokussieren aber unterschiedliche Gesprächssitua-
tionen (Klassengespräche, tutorielle Dialoge). Die Ergebnisse werden auch in Bezug
auf die Zielsetzung diskutiert, Merkmale wirksamer Unterstützung kollektiver und
individueller Verstehensprozesse zu identifizieren und im Sinne der Unterrichtsent-
wicklung zu kultivieren.
Literatur
Chi, M. T. H., Siler, S. A., Jeong, H., Yamauchi, T. & Hausmann, R. G. (2001).
Learning from human tutoring. Cognitive Science, 25, 471-533.
Franke, M. L., Kazemi, E. & Battey, D. (2007). Mathematics teaching and classroom
practice. In F. K. Lester (Ed.), Second handbook of research on mathematics
teaching and learning. A project of the National Council of Teachers of Mathemat-
ics (pp. 225-256). Charlotte, NC: Information Age Publishing/NCTM.
Greeno, J. G. (2006). Theoretical and practical advances through research on learn-
ing. In Y. L. Green, G. Camilli, P. Elmore, A. Skukauskaite & E. Grace (Eds.),
Handbook of complementary methods in education research (pp. 795-822).
Washington, DC: American Educational Research Association.
Lipowsky, F., Rakoczy, K., Klieme, E., Reusser, K. & Pauli, C. (2005). Unterrichts-
qualität im Schnittpunkt unterschiedlicher Perspektiven - Rahmenkonzept und
erste Ergebnisse einer binationalen Studie zum Mathematikunterricht in der Se-
kundarstufe I. In H. G. Holtappels & K. Höhmann (Eds.), Schulentwicklung und
Schulwirksamkeit. Systemsteuerung, Bildungschancen und Entwicklung der
Schule (pp. 223-238). Weinheim: Juventa.
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Pauli, C. (2006). "Fragend-entwickelnder Unterricht" aus der Sicht der soziokultura-
listisch orientierten Unterrichtsgesprächsforschung. In M. Baer, M. Fuchs, P.
Füglister, K. Reusser & H. Wyss (Eds.), Didaktik auf psychologischer Grundlage.
Von Aeblis kognitionspsychologischer Didaktik zur modernen Lehr-Lernforschung
(pp. 192-206). Bern: h.e.p.
Sfard, A. (2002). There is more to discourse than meets the ears: Looking at thinking
as communicating to learn more about mathematical learning. In C. Kieran, E.
Forman & A. Sfard (Eds.), Learning discourse. Discursive approaches to research
in mathemtics education (pp. 13-57). Dordrecht: Kluwer.
Klassengespräche im Physikunterricht
Knierim, Birte
Pädagogische Hochschule Bern
birte.knierim@phbern.ch
Keywords
Videostudie, Physikunterricht, Lernbegleitung, Klassengespräch
40 Doppellektionen Physikunterricht im neunten Schuljahr aus der SNF-Studie
„Lehr-Lern-Kultur im Physikunterricht“ (Labudde, Knierim & Gerber, 2006) wurden
mit Hilfe des Beobachtungsschemas zur prozessorientierten Lernbegleitung von Ko-
barg und Seidel (2003) analysiert (Knierim, 2008). Ziel der Auswertung war es, die
Eignung von Lernbegleitung als Merkmal von Unterrichtsqualität innerhalb des An-
gebots-Nutzungs-Modells von Helmke (2004) zu evaluieren.
In einem quantitativen Teil standen bei diesen Analysen Äusserungen von Lehrper-
son sowie Schülerinnen und Schülern während des Klassengesprächs im Fokus,
welche bezüglich Art, Länge, kognitivem Niveau etc. kodiert wurden. Die Resultate
geben Auskunft über (typische?) Gesprächsstrukturen während der Plenumsphasen
im Physikunterricht.
Auffallend ist der hohe Redeanteil der Lehrperson von M = 82% (SD = 8.7%), wäh-
rend derer sie in erster Linie Fragen stellt (M = 56 pro Doppellektion, SD = 29) und
Erläuterungen abgibt (M = 22, SD = 11). Rückmeldungen an die Lernenden, welche
hauptsächlich Antworten geben (M = 79%, SD = 13%) und zudem zumeist (M =
65%, SD = 15%) lediglich als Stichwortgeber für die Lehrperson dienen, sind nur in
seltenen Fällen (M = 4%, SD = 4%) konstruktiv oder unterstützend.
Daten aus stärker schülerzentrierten Arbeitsphasen lassen erahnen, dass auch die
Lernenden Gelegenheit zu mehr und aktiveren Äusserungen während des Unter-
richts haben. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Plenumsphasen zwei Drittel
der Unterrichtszeit in Anspruch nehmen, drängt sich jedoch die Frage auf, ob mit
einem so stark auf die Lehrperson fixiertem Klassengespräch eine adaptive Unter-
stützung von Verstehensprozessen im Unterricht überhaupt stattfinden kann. Im
Symposium soll – auch im Vergleich mit entsprechenden Daten aus dem Mathema-
tikunterricht – eine entsprechende Diskussion angestossen werden.
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